Donnerstag, 13. September 2012

Leseprobe 2


… Ich betrat das Lehrerzimmer, das menschenleer war. Erleichtert, in meiner Übermüdung keinen Smalltalk führen zu müssen, setzte ich mich an einen Tisch. Doch meine Freude sollte nicht lange währen. Nur ein paar Minuten später öffnete sich die Tür und Hans Stiegl kam mit einem Stapel Blätter herein. Sein Blick verdüsterte sich sofort, als er meiner ansichtig wurde, und die passende Bemerkung hatte er auch gleich parat.
„Na, heute haben Sie ja einen gewaltigen Frühstart hingelegt, ganz im Gegensatz zum Konferenztag!“, sagte er spöttisch und ging dabei zu seinem Tisch, auf den er die Arbeitsblätter knallte. Warum musste ausgerechnet dieser Ausbund an Unverschämtheit so früh hier sein! Warum nicht Jan? Mit ihm wäre es zum reinen Vergnügen geworden, doch mit Hans war Kampf angesagt.
„So etwas kann doch jedem mal passieren, auch Ihnen. Das liegt eben in der Natur des Menschen.“
„In der Natur schusseliger Menschen vielleicht!“ Er lachte höhnisch.
Ich musste an mich halten, um nicht entnervt aufzustöhnen. War es diesem Kerl denn nicht möglich, in normalem Ton zu kommunizieren?
„Sie haben heute Englisch in meiner Klasse. Ich möchte Sie vor Patrick warnen, ein unguter Geselle. Er kommt aus schwierigen Verhältnissen. Die Mutter ist schon zum dritten Mal verheiratet, hat vier Kinder von drei Männern und sein Stiefvater hat Probleme mit dem Alkohol, was auch schon auf Patrick abfärbt. Von Frauen lässt er sich übrigens ungern unterrichten.“
„Aha“, antwortete ich kurz angebunden.
Ich war nicht gewillt, mich mit diesem Widerling weiter zu unterhalten. Leider handelte ich mir damit die nächste Klatsche ein.
„Mehr fällt Ihnen nicht dazu ein?! Oder war das zu viel Information auf einmal zu so – für Sie zumindest – ungewöhnlich früher Stunde?“
Wie konnte man diesem fiesen Lästermaul bloß wirksam Kontra geben? Mir fiel nichts ein, also wedelte ich nur verärgert mit meiner Kopiervorlage vor seiner dicken Nase herum und antwortete in schroffem Ton: „Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Ihre Belehrungen. Sie entschuldigen mich!“
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu und eilte davon.
Während ich dem Kopiergerät zusah, wie es die Blätter nacheinander ausspuckte, dachte ich darüber nach, mit welcher Strategie ich mich gegen ihn wehren konnte. Am besten war es, mich nicht provozieren zu lassen. Wenn ich ihn mit seiner Boshaftigkeit auflaufen ließ, würde es vielleicht irgendwann reizlos für ihn werden, mich zu ärgern, und ich hätte meine Ruhe. Die Theorie war gut, fragte sich nur, wie die Praxis aussah. Ich muss mich jetzt auf den Unterricht konzentrieren, dachte ich, packte entschlossen meine Blätterstapel, drehte mich um und wurde unsanft von einem männlichen, mit brauner Lederjacke bekleideten Oberkörper gerempelt. Ich ließ vor Schreck mein gesamtes Kopiergut fallen, das sich gleichmäßig über den Boden verteilte.
„Oh Verzeihung, Isabel, ich bin dir wohl zu nahegetreten!“, rief Jan lachend und ging gleich darauf in die Hocke, um die Blätterflut einzusammeln.
„Ach du bist es! Ich dachte schon …“, stieß ich erleichtert hervor.
Er sah zu mir hoch. „Was dachtest du?“
„Nichts weiter.“
Ich ging ebenfalls in die Hocke und scharrte die Blätter zusammen.
„Was hat dich denn schon so früh aus dem Bett gejagt? Schlecht geschlafen?“, fragte er und sah mich prüfend an. Nur dieser eine kurze Blick in mein Gesicht hatte ihm genügt, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
„Unsere Haushälterin macht gerade Ärger, und der Gedanke an sie hat mir den Schlaf geraubt. Aber Alex wird das schon regeln.“
„Alex?“
„Mein Mann.“
Für ein paar Sekunden verfingen sich unsere Blicke auf seltsame Weise. War es Neugierde, die ich in seinen Augen erblickte? Hastig fuhr ich fort die restlichen Blätter einzusammeln.
„Hier!“ Er reichte mir lächelnd seinen Stapel und streifte dabei meine Hand. Es war nur eine unbedeutende, zufällige Berührung, und doch war es, als hätte ich einen Stromschlag erhalten. Irritiert stand ich auf und presste den Blätterstapel wie ein Schutzschild an meine Brust.
„Gut, ich muss dann los. Wir sehen uns in der Pause“, sagte ich nur, drehte mich auf dem Absatz um und verließ eilig, ohne eine Antwort abzuwarten, das Lehrerzimmer. …