… Ich betrat das Lehrerzimmer, das menschenleer war.
Erleichtert, in meiner Übermüdung keinen Smalltalk führen zu müssen, setzte ich
mich an einen Tisch. Doch meine Freude sollte nicht lange währen. Nur ein paar
Minuten später öffnete sich die Tür und Hans Stiegl kam mit einem Stapel
Blätter herein. Sein Blick verdüsterte sich sofort, als er meiner ansichtig
wurde, und die passende Bemerkung hatte er auch gleich parat.
„Na, heute haben Sie ja einen gewaltigen Frühstart
hingelegt, ganz im Gegensatz zum Konferenztag!“, sagte er spöttisch und ging
dabei zu seinem Tisch, auf den er die Arbeitsblätter knallte. Warum musste
ausgerechnet dieser Ausbund an Unverschämtheit so früh hier sein! Warum nicht
Jan? Mit ihm wäre es zum reinen Vergnügen geworden, doch mit Hans war Kampf
angesagt.
„So etwas kann doch jedem mal passieren, auch Ihnen. Das
liegt eben in der Natur des Menschen.“
„In der Natur schusseliger Menschen vielleicht!“ Er lachte
höhnisch.
Ich musste an mich halten, um nicht entnervt aufzustöhnen.
War es diesem Kerl denn nicht möglich, in normalem Ton zu kommunizieren?
„Sie haben heute Englisch in meiner Klasse. Ich möchte Sie
vor Patrick warnen, ein unguter Geselle. Er kommt aus schwierigen
Verhältnissen. Die Mutter ist schon zum dritten Mal verheiratet, hat vier
Kinder von drei Männern und sein Stiefvater hat Probleme mit dem Alkohol, was
auch schon auf Patrick abfärbt. Von Frauen lässt er sich übrigens ungern
unterrichten.“
„Aha“, antwortete ich kurz angebunden.
Ich war nicht gewillt, mich mit diesem Widerling weiter zu
unterhalten. Leider handelte ich mir damit die nächste Klatsche ein.
„Mehr fällt Ihnen nicht dazu ein?! Oder war das zu viel
Information auf einmal zu so – für Sie zumindest – ungewöhnlich früher Stunde?“
Wie konnte man diesem fiesen Lästermaul bloß wirksam Kontra
geben? Mir fiel nichts ein, also wedelte ich nur verärgert mit meiner
Kopiervorlage vor seiner dicken Nase herum und antwortete in schroffem Ton:
„Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Ihre Belehrungen. Sie entschuldigen mich!“
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu und eilte davon.
Während ich dem Kopiergerät zusah, wie es die Blätter
nacheinander ausspuckte, dachte ich darüber nach, mit welcher Strategie ich
mich gegen ihn wehren konnte. Am besten war es, mich nicht provozieren zu
lassen. Wenn ich ihn mit seiner Boshaftigkeit auflaufen ließ, würde es
vielleicht irgendwann reizlos für ihn werden, mich zu ärgern, und ich hätte
meine Ruhe. Die Theorie war gut, fragte sich nur, wie die Praxis aussah. Ich
muss mich jetzt auf den Unterricht konzentrieren, dachte ich, packte
entschlossen meine Blätterstapel, drehte mich um und wurde unsanft von einem
männlichen, mit brauner Lederjacke bekleideten Oberkörper gerempelt. Ich ließ
vor Schreck mein gesamtes Kopiergut fallen, das sich gleichmäßig über den Boden
verteilte.
„Oh Verzeihung, Isabel, ich bin dir wohl zu nahegetreten!“,
rief Jan lachend und ging gleich darauf in die Hocke, um die Blätterflut
einzusammeln.
„Ach du bist es! Ich dachte schon …“, stieß ich
erleichtert hervor.
Er sah zu mir hoch. „Was dachtest du?“
„Nichts weiter.“
Ich ging ebenfalls in die Hocke und scharrte die Blätter
zusammen.
„Was hat dich denn schon so früh aus dem Bett gejagt?
Schlecht geschlafen?“, fragte er und sah mich prüfend an. Nur dieser eine kurze
Blick in mein Gesicht hatte ihm genügt, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
„Unsere Haushälterin macht gerade Ärger, und der Gedanke an
sie hat mir den Schlaf geraubt. Aber Alex wird das schon regeln.“
„Alex?“
„Mein Mann.“
Für ein paar Sekunden verfingen sich unsere Blicke auf
seltsame Weise. War es Neugierde, die ich in seinen Augen erblickte? Hastig
fuhr ich fort die restlichen Blätter einzusammeln.
„Hier!“ Er reichte mir lächelnd seinen Stapel und streifte
dabei meine Hand. Es war nur eine unbedeutende, zufällige Berührung, und doch
war es, als hätte ich einen Stromschlag erhalten. Irritiert stand ich auf und
presste den Blätterstapel wie ein Schutzschild an meine Brust.
„Gut, ich muss dann los. Wir sehen uns in der
Pause“, sagte ich nur, drehte mich auf dem Absatz um und verließ eilig, ohne
eine Antwort abzuwarten, das Lehrerzimmer. …